Kriegsführung 4.0
Editorial
Thomas Gruber & Marius Pletsch
Kriegsführung 4.0
Die erste Feuerwaffe, die Entwicklung der Telegrafie, der Krieg in der Luft – die Militärgeschichte ist durchzogen von taktischen und technologischen Neuerungen, welche die jeweilige Form der Kriegsführung vollständig umkrempelten. Jüngere Beispiele hierfür sind die Erfindung und der Einsatz von Nuklearwaffen sowie die militärische Eroberung des Alls. Militärwissenschaftlich hat sich für solche umwälzende Meilensteine der Kriegsgeschichte der Begriff »Revolution in Military Affairs« etabliert. Und wenn wir der aktuellen militärischen und medialen Berichterstattung Glauben schenken, so steht uns eine neue solche »Revolution« ins Haus. Unser Titel »Kriegsführung 4.0« orientiert sich dabei am Editorial »Kriegsführung 3.0« im Heft 1-2011 und soll veranschaulichen, dass sich die »moderne Kriegsführung« in den vergangenen sieben Jahren (leider) in riesigen Schritten weiterentwickelt hat. Wir haben den Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe deshalb auf diejenigen technologischen und taktischen Neuerungen in der Kriegsführung gelegt, die aktuell auf eine grundlegende Umwälzung militärischer Angelegenheiten hindeuten: das militärische Agieren im Cyber- und Informationsraum sowie die immer weitere Automatisierung von Kriegsgeräten und Entscheidungsprozessen.
Presseschau
Jürgen Nieth
Zerstörer Trump
Am 22. Oktober 1983 demonstrierte über eine Million Menschen in Bonn, Hamburg und bei der Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in der BRD und die Stationierung sowjetischer SS20 in der DDR. Die Regierung Kohl-Genscher ließ trotzdem stationieren. Mit einem bilateralen Abkommen (dem INF-Vertrag) zwischen den USA und der Sowjetunion – die anderen Atomwaffen besitzenden Staaten waren nicht einbezogen – wurde 1987 vereinbart, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verschrotten und keine neuen zu beschaffen. 1.846 russische und 846 US-amerikanische Trägersysteme wurden zerstört. Das Abkommen galt „als Meilenstein der Rüstungskontrolle im Kalten Krieg″ (Hubert Wetzel, SZ 22.10.18, S. 6).
Gastkommentar
Christian Nünlist
»Offener Himmel«: Krise abgewendet?
Seit dem Inkrafttreten des »Open Skies«-Abkommens (2002) gab es zwischen den USA, Kanada, Russland und 31 europäischen Vertragsstaaten weit mehr als 1.000 Inspektionsflüge. Der »Vertrag über den Offenen Himmel« symbolisiert ein wichtiges Element von militärischer Transparenz, Vertrauensbildung und Konfliktvermeidung im euro-atlantischen Raum. Er erlaubt eine jährlich definierte Anzahl unbewaffneter Beobachtungsflüge auf vorgängig miteinander vereinbarten Routen sowie Luftaufnahmen von militärischem Personal und Material.
Kriegsführung 4.0
Frank Sauer & Thomas Gruber
Mit Technologie in die Dystopie?
Ein Diskurs über konkrete und diffuse Risiken
Die Bedrohungsszenarien, welche heute im Zusammenhang mit neuen Technologien gezeichnet werden, sind erschreckend: vollständige und zuverlässige Überwachung durch intelligente Kamerasysteme, automatisiertes Töten mittels selbststeuernder Kampfdrohnen und empfindliche Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, wie Krankenhäuser oder Kraftwerke. Dabei ist das konkrete Gefahrenpotential dieser Ansätze nur sehr schwer greifbar, denn Überwachung und Cyberattacken sind meist unsichtbar. Autonome Waffensysteme wiederum sind schon deshalb eine diffuse Bedrohung, weil ihre Entwicklung jetzt politisch bekämpft werden muss, obgleich sie bisher noch nicht existieren.Die W&F-Autoren Frank Sauer und Thomas Gruber sind sich einig über die Notwendigkeit, diese Themen stärker öffentlich zu diskutieren und auf internationaler Ebene möglichst rasch einer Verrechtlichung zuzuführen. Ob die Nutzung neuer Technologien im Sicherheits- und Militärsektor immer weiter voranschreitet, unvermeidlich ist und zu einer dystopischen Zukunft führen wird, darüber gehen ihre Meinungen aber auseinander.
Marius Pletsch
Die Automatisierung der Kriegsführung
Das Beispiel bewaffnete Drohnen
Ein Auto fährt auf einer unbefestigten Straße in den pakistanischen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA), die grenznah zu Afghanistan liegen. Weit über ihm kreist eine Drohne, die mit einem Modul bestückt ist, das sich als Mobilfunkmast ausgibt. Die Mobiltelefone der Mitfahrer*innen des Autos wählen sich ein und können nun lokalisiert werden. Sowohl die Gerätenummern wie die Mobilfunknummern werden mithilfe eines Algorithmus überprüft. Ein Mobiltelefon erregt die Aufmerksamkeit der Überwacher. Es ist diese Route öfters abgefahren, wurde mit mehreren SIM-Karten betrieben, und die aktiven Nummern wurden ausschließlich angerufen. Eine zweite Drohne, die sich näher an der aktuellen Position des Autos befindet und schwerer bewaffnet ist, fokussiert ihre Kameras auf das Auto und folgt ihm. Werden die Insassen des Kraftfahrzeuges von Raketen zerfetzt werden?
Pratap Chatterjee
Technologie als Achillesferse
Fallstricke der Drohnenkriegsführung
Drohnen werden gelegentlich fast magische Fähigkeiten zugeschrieben: Sie könnten mit ihren Kameras aus vielen Kilometern Entfernung mit hoher Zuverlässigkeit Menschen identifizieren. Sie könnten mithilfe der Handyortung die Wege und Aufenthaltsorte gegnerischer Personen auf wenige Meter genau ermitteln. Sie würden Daten liefern, die es ermöglichen, die Anwesenheit von Zivilist*innen auszuschließen, bevor ein bestimmtes Ziel angegriffen wird. Kurzum: Sie würden es erlauben, einen »sauberen« Krieg zu führen, der die Zivilbevölkerung verschont. Pratap Chatterjee untersucht, was es mit diesen Behauptungen hat und warum sie mit der Realität allzu oft nur wenig zu tun haben.
Daniel Leisegang
Big Data und Militär
Der Kampf gegen den Zufall
Big Data soll ein effektiveres und wirkungsvolleres Handeln des Militärs ermöglichen. Allerdings drohen Kriege damit nicht nur automatisiert, sondern zugleich zum Mittel erster Wahl zu werden. Die Folgen sind dramatisch – auch und gerade für die Demokratie.
Christoph Marischka
Hybrides Kommando
Das neue Komando »Cyber- und Informationsraum« der Bundeswehr
Cyber-Themen sind längst auf allen Ebenen angekommen, auch in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Bundesregierung verabschiedete 2016 eine »Cyber-Sicherheitsstrategie«, damit „[d]ie Handlungsfähigkeit und Souveränität Deutschlands […] auch im Zeitalter der Digitalisierung gewährleistet″ bleibt. Ein wichtiges Element dieser Strategie ist die „Positionierung Deutschlands in der europäischen und internationalen Cyber-Sicherheitspolitik″. Dazu will die Regierung z.B. „[d]ie Cyber-Verteidigungspolitik der NATO weiterentwickeln″ (Zitate von auswärtiges-amt.de). Keineswegs beschränkt sich die Regierung aber auf eine »Cyber-Außenpolitik«, vielmehr hat das Arbeitsfeld auch bei der Bundeswehr hohe Priorität.
Ingo Ruhmann & Ute Bernhardt
Lebensadern des Cyberkriegs
Die Manipulation unserer IT-Infrastrukturen aus Hardware, Software und Netzwerken durch Militärs, Geheimdienste und deren Söldner ist zum Element des digitalen Alltags geworden. Für die Betroffenen ist es völlig egal, ob wir dies als Cyberkrieg bezeichnen oder diplomatischer als transnationale staatliche Computereingriffe (intrusion) „ohne Einwilligung betroffener Staaten zu Zwecken der Überwachung, Spionage oder Cyberoperationen in Zeiten des Friedens oder der Spannungen″.1 Für den Alltag wichtig ist die Frage, wie sich diese Eingriffe eindämmen und möglichst verhindern lassen. Wer dies als Ziel verfolgt, muss zuerst klären, womit wir es zu tun haben – und das nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auf der Ebene der Infrastrukturen, der Lebensadern des Cyberwar.
Daniele Amoroso & Guglielmo Tamburrini
Kriegsführung 4.0
Ethische und rechtliche Implikationen
Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Bemühungen der Internationalen Staatengemeinsschaft, sich mit den ethischen und völkerrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen, die durch neue destabilisierende Militärtechnologien aufgeworfen werden.
Noel Sharkey
Menschliche Steuerung von Waffensystemen
Im April 2018 fand in Genf eine Arbeitstagung der »Gruppe der Regierungsexpert*innen« des VN-Waffenübereinkommens statt. An der Sitzung nahmen auch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen teil, darunter des International Committee for Robot Arms Control – ICRAC. Der für W&F übersetzte und nachfolgend abgedruckte Text wurde bei der Tagung als ICRAC Working Paper 3 vorgelegt.
Moritz Kütt & Alexander Glaser
Vintage-Verifikation
Retrocomputer für Abrüstungsverifikation und eine kernwaffenfreie Welt
Im Rahmen einer zukünftigen Abrüstung von Kernwaffen müssen Sprengköpfe vor ihrer Zerlegung als authentische Sprengköpfe bestätigt werden. Das erfordert vertrauenswürdige Messsysteme, die diese Identifikation anhand von radioaktiven Signaturen vornehmen können. Verschiedene solche Systeme existieren, bei allen ist jedoch die vertrauenswürdige Datenverarbeitung problematisch. Eine neuer Vorschlag für ein Messsystem basiert auf der Nutzung von Retrocomputern. »Information Barrier eXperimental II« ist ein Prototyp eines solchen Systems zur Gammaspektroskopie auf Basis eines Apple IIe mit MOS-6502-Prozessor.1
Historische Friedensforschung
Jost Dülffer
Frieden nach dem Ersten Weltkrieg
Chancen und Grenzen
Am 11. November 1918 schwiegen die Waffen zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten und assoziierten Nationen, allen voran Großbritannien, Frankreich und USA. Dieser Erste Weltkrieg hatte annähernd zehn Millionen Menschen das Leben gekostet, doppelt so viele waren verwundet und kehrten physisch, oft auch psychisch für ihr weiteres Leben gezeichnet in der Folgezeit zurück. Dieser 11. November hat sich seither als der entscheidende Tag des Kriegsendes ins historische Gedächtnis eingebrannt und wird zumal in den USA, Frankreich und Großbritannien bis heute jedes Jahr intensiv gefeiert. Es ist eine klassische, aber naive und daher falsche Vorstellung, dass nach dem Ende der Kampfhandlungen »nur« noch ein Frieden ausgehandelt werden musste, den man dann normativ bewerten kann.
Konfliktbearbeitung
Werner Wintersteiner
Weg zur Versöhnung in Bosnien?
Gemeinsam der Opfer gedenken
Kriege wirken nach – lange. Wunden werden nicht nur physisch geschlagen, sondern auch psychisch. Eine schwer aufzulösende Hinterlassenschaft von Kriegen sind der Hass und das anhaltende Misstrauen zwischen den ehemaligen Kriegsparteien. Dieser Artikel schildert die Reise des Autors nach Bosnien und wie Kriegsveteranen aller drei Lager des Bosnienkrieges durch gemeinsames Opfergedenken einen Weg der Versöhnung beschreiten.
Junge Friedensforschung
David Scheuing
Grenzarbeiter*innen
Akteure und Ortsproduktionen im Grenzregime 2015
Der »Balkan-Routen-Korridor«, der sich 2015 im Zuge des »langen Sommers der Migration« von Griechenland bis Deutschland erstreckte, war eine neue Form der transnationalen Grenzziehung quer durch Europa. Die Entstehung dieser »Geographie der Grenze« war den spezifischen Gegebenheiten und dem Handeln der Akteure der damaligen Fluchtbewegungen geschuldet. Vielfach wurden Regierungen und Geflüchtete als diese Akteure identifiziert. Humanitären Akteuren wird oft keine eigene Akteurs-Rolle zugestanden, oder diese wird weitgehend ausgeblendet. Um dieser Verkürzung zu begegnen, untersucht dieser Artikel die Rolle der beteiligten intermediären Akteure am Beispiel der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien.
Forum
W&F-Herausgeberkreis
Aus dem Herausgeberkreis
Weizenbaum-Medaille 2018 für Wolfgang Coy Das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) verlieh am 29. September im Rahmen der FIfF-Konferenz in Berlin die Weizenbaum-Medaille 2018 an Prof. Dr. Wolfgang Coy für seine außerordentlichen Verdienste um das Themengebiet Informatik und Gesellschaft.
Richard Herzog
Extraktivismus und Widerstand in Lateinamerika
Workshop am GCSC, Gießen, 26.-28. Juni 2018
Der Workshop »Logics of Extractive Occupation and Collective Action in Latin America« wurde vom International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) Gießen gefördert und von María Cárdenas, Richard Herzog und Andrea Sempértegui organisiert. Der zweitägige Workshop bot eine gute Gelegenheit, über die Ausbreitung extraktiver Projekte und Praktiken, d.h. die (häufig auf Raubbau basierende) Gewinnung und den Export von Rohstoffen, in Lateinamerika zu diskutieren. Die interaktive und offene Atmosphäre war dem Erfahrungsaustausch förderlich. Eine zentrale Frage zog sich durch mehrere der Vorträge und Diskussionen: Inwieweit ist Frieden in zunehmend extraktivistischen Gesellschaften überhaupt möglich? Und um wessen Friedensverständnis handelt es sich dabei, und wer wird ausgeklammert?
María Cárdenas
»Racial Capitalism« und Neoliberalismus
Workshop an der Justus-Liebig Universität, Gießen, 4.-5. Juli 2018
Was bedeutet Solidarität im Kontext von Racial Capitalism, Neoliberalismus und der Finanzialisierung unserer Welt? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rassismus, dem Wiedererstarken von Rechtspopulismus in Europa wie andernorts und dem Kapitalismus unserer heutigen Zeit? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der zweitägige internationale Workshop »Solidarity Reloaded: Racial Capitalism, Neoliberalism and Financialization« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Der Workshop wurde organisiert von Encarnación Gutiérrez, Andrea Sempértegui, María Cárdenas und Ceren Türkmen und gefördert durch das Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) und den Lehrstuhl für allgemeine Soziologie der Universität. Das Thema wurde aus dekolonial-feministischer Perspektive und anhand verschiedener Beispiele aus Europa (Deutschland und Großbritannien) und Lateinamerika (Ecuador und Kolumbien) beleuchtet. Ziel war es, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der spezifischen Ausformung des Dreiecks von Rassismus – Patriarchat – Kapitalismus in den lokalen Kontexten auszumachen und gleichzeitig zu versuchen, Formen des Widerstands und der Solidarität zu identifizieren.
Malte Albrecht
Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden
Kongress der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, Berlin, 15.-16. Juni 2018
Angesichts hoher Rüstungsausgaben, eines zunehmenden Waffenhandels und des Vormarsches neuer Milita¨rtechnologien hatte sich die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative (NatWiss) für ihren diesjährigen Kongress »Wissenschaft zwischen Krieg und Frieden« vorgenommen, die Wissenschaft von heute einer Standortbestimmung zu unterziehen. Gefördert von der GEW und unterstützt durch BdWi, FIFF, IALANA, IPB, IPPNW, VDW und W&F1 diskutierten Fachleute aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, welche Rolle der Wissenschaft bei der weltweiten Militarisierung zukommt. Eng damit gekoppelt ging es auch um konkrete Möglichkeiten, Verantwortung und Wissenschaft zusammen zu denken: Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler*innen und was kann jede(r) Einzelne zum Frieden beitragen?
| keine Kat