Zusammenfassung
Ein Viertel der Menschheit ist von Wasserknappheit bedroht. Großstädte wie São Paulo oder Kapstadt standen schon kurz vor dem "Day Zero" - dem Tag, an dem kein Wasser mehr aus dem Hahn kommt. Im Juni dieses Jahres mussten Tankzüge die Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt Chennai in Ostindien mit Trinkwasser versorgen. Und Europa erlebt im Zuge der Klimakrise zwei Dürresommer in Folge. Vielerorts sind es Staudammprojekte, die bestehende Konflikte anheizen. Sei es am Blauen Nil, um dessen Wasser sich Äthiopien, Sudan und Ägypten streiten, am Mekong oder an der albanischen Vjosa - einem der letzten wilden Flüsse Europas. Auch um die Wasserkraft wird vehement gestritten. So wichtig die "grüne Energie" auch sein mag, um die Verbrennung fossiler Rohstoffe zu reduzieren - jede neue Talsperre und jeder neue Stausee verursacht zunächst einmal massive Umweltzerstörung. - Wie geht's weiter mit dem Element, das zum Luxusgut zu werden droht? Ist die Wasserkraft Fluch oder Segen? Was passiert, wenn die Meeresspiegel weiter steigen? Wer hat sich das Label "Biowasser" ausgedacht? Welche Rolle spielt Wasser im Western? Und was ist eigentlich virtuelles Wasser?
Ein Heft über die wichtigste Ressource der Welt; mit Beiträgen von Annette Jensen, Niels Kadritzke, Manfred Kriener, Elizabeth Rush, Georg Seeßlen und anderen.
Knapp und umkämpft
Editorial
Wasser entspringt als Quelle, strömt als Fluss, überschlägt sich als Welle, es fällt vom Himmel als Regen, Hagel oder Schnee. Es verdunstet, es versickert, es gefriert zu Eis und taut wieder. Es ist permanent in Bewegung, in regionalen und in globalen Kreisläufen. Wasser ist so essenziell für das Leben auf unserem Planeten, dass Nachrichten wie die aus dem indischen Chennai, wo im Sommer 2019 kein Tropfen mehr aus dem Hahn kam, wie apokalyptische Vorboten anmuten. Sämtliche Wasser reservoirs der Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt waren wegen ausbleibender Regenfälle und extremer Hitze erschöpft. Tankzüge mussten die Stadt versorgen, die Menschen für einen Kanister Wasser stundenlang Schlange stehen.
Doch Chennai ist keine Ausnahme. Letztes Jahr stand Kapstadt kurz vor dem »Day Zero«, 2015 war es die brasilianische Metropole São Paulo (Seite 18). Und erst jüngst warnte das Washingtoner World Resources Institute vor einer globalen Wasserkrise. In 17 Staa ten herrscht bereits ein extrem hoher Wasserstress, 80 Pro zent des verfügbaren Oberflächen- und Grundwassers werden dort jährlich von Landwirtschaft, Industrie und Kommunen verbraucht. Ein Viertel der Weltbevölkerung ist betroffen. Der menschen gemachte Klimawandel und der weiterhin steigende Wasserbedarf werden die Krise in den nächsten Jahren noch verschärfen.
Das Wasser wird knapp. Und was knapp ist, ist umkämpft. Das gilt im französischen Vittel, wo der Multi Nestlé pro Jahr mehrere hundert Millionen Liter aus der Tiefe pumpt, um es in Flaschen abzufüllen, und für die Anwohner kaum etwas übrig bleibt (Seite 68). Das gilt im besonders trockenen Nahen Osten, wo Israel zwar als Vorreiter in Sachen Wasseraufbereitung und -management gilt, vielen Palästinensern aber den Zugang zu sauberem Wasser verweigert (Seite 42). Das gilt für die großen Flussläufe mit mehreren Anrainern, wo Staudamm-Projekte zur Stromerzeugung immer wieder zum Politikum werden. Wenn etwa Äthiopien wie geplant 2022 seinen Megastaudamm GERD am Blauen Nil in Betrieb nimmt, dürfte sich im Sudan und in Ägypten die Durchflussmenge schlagartig reduzieren, große Teile der landwirtschaftlichen Anbaufläche könnten verloren gehen (Seite 40). Katastrophale Folgen für Landwirtschaft und Öko systeme könnten sich auch für die vietnamesische »Reiskammer« im Mekong-Delta und den Tonle-Sap-See in Kambodscha ergeben, wenn die Staaten am Ober- und Mittellauf des »Großen Flusses« – allen voran China – ihre zahlreichen Projekte für Talsperren und Wasserkraftwerke umsetzen (Seite 32). Über Nutzen und Nachteil der Wasserkraft wird auch an der albanischen Vjosa – einem der letzten wilden Flüsse Europas – vehement gestritten (Seite 82). Während die Bevölkerung auf dem Balkan mit Hilfe von internationalen NGOs für den Erhalt einzigartiger Naturräume kämpft, fließt die Elbe schon lange nicht mehr in ihrem ursprüng lichen Bett. Heute werden Milliarden von Steuergeldern für die Fahrrinnenvertiefung und den Erhalt von Schleusen und Hafen anlagen aufgebracht, obwohl jenseits von Geesthacht auf der Elbe kaum noch Güter transportiert werden (Seite 72).
Mit klimainduziertem Wassermangel hatte auch der Panama kanal – eine der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraßen der Welt – 2018 und 2019 zu kämpfen. Seit ein paar Jahren sind dort riesige neue Schleusenkammern in Betrieb, die den immer größer werdenden Container-Pötten die Durchfahrt ermöglichen sollen (Seite 54). Jedoch: Seeschiffe transportieren nicht nur 90 Prozent der weltweiten Warenströme, sie sind auch für einen maß geblichen Teil der ausgestoßenen Treibhausgase verantwortlich.
Heizt sich die Erde weiter auf, werden die abschmelzenden Polkappen auch die Meeresspiegel steigen lassen. In Bangladesch und im US-Bundesstaat Louisiana lässt sich heute schon beob achten, was es für Menschen in Küstennähe bedeutet, wenn immer mehr Land im Meer verschwindet und Salzwasser ins Landes innere drängt (Seite 104 und Seite 108).
Allen Schreckensszenarien zum Trotz: Das vorliegende Heft beschwört nicht nur die Katastrophe, es erzählt auch Geschichten von Menschen am, im und auf dem Wasser – vom Schwimmen lernen (Seite 100), von der Rückkehr des Nördlichen Aralsees (Seite 10) und vom koordinierten staatlichen Eingreifen, das die Themse 1858 von einer stinkenden Kloake in einen Fluss zurückverwandelte (Seite 98).