Der Aufbau dieses Buches
Der erste Teil stellt unter dem Titel Biowissenschaft als Bezugsdisziplin der Pädagogik einige grundlegende Theorieannahmen der Biowissenschaften dar und geht kurz auf die Geschichte der Rezeption naturwissenschaftlicher Anthropologie ein. Möglichen Missverständnissen wird zu begegnen versucht. Gleichzeitig wird das Erkenntnisinteresse dieses Buches detailliert offen gelegt: die Diskussion von bisher in der Pädagogik nur wenig beachteten Zusammenhängen.
Die dann folgenden Kapiteln gehen vertiefend auf einzelne Themen der „Biologischen Grundlagen des Lehrens und Lernens" ein. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Natur des Lernens im engeren Sinne. Dabei geht es zunächst um die Frage, warum Menschen überhaupt lernen können. Es wird geklärt, wie das Verhältnis zwischen Anlage und Umwelt im Hinblick auf Lernvorgänge zu verstehen ist. Anschließend werden neurowissenschaftliche und physiologische Grundlagen sowie die Stammesgeschichte des Lernens beschrieben und in pädagogische Zusammenhänge gerückt. Diese Theorien können beispielsweise erklären, warum etwas anschaulich ist oder nicht. Außerdem wird aus biowissenschaftlicher Perspektive die Bedeutung von Gefühlen für das Lernen dargelegt.
Der dritte Teil untersucht die Natur pädagogisch relevanter Beziehungen. Zunächst geht es um die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Geschwistern und zwischen Lehrkräften und Schülern aus biologischer Perspektive im Hinblick auf pädagogische Prozesse. Anschließend werden Unterschiede zwischen Frauen und Männern dargestellt.
Die biologische Aufklärung der Pädagogik - eine Einführung
Die Biologie schickt sich an, die neue Leitwissenschaft zu werden. In den letzten Jahren wurden erhebliche Erkenntnisfortschritte erzielt, der zurzeit spektakulärste und medienwirksamste ist sicher die Entzifferung des menschlichen Genoms. Aber auch weitere Fragestellungen nach den Grundlagen menschlichen Lebens werden intensiv bearbeitet, und die damit verbundene biologische Grundlagenforschung wird mit Hochdruck betrieben.
Auch die Pädagogik beschäftigt sich in Theorie und Praxis mit dem Menschen. Ein Interesse an den Erkenntnissen der Biologie scheint insofern nahe zu liegen. Doch ein interdisziplinärer Dialog ist bisher erst in sehr zaghaften Anfängen zu beobachten. Vielmehr bezieht sich die Pädagogik - in langer Tradition - auf die geisteswissenschaftliche Anthropologie. Diese Beschränkung könnte in Zukunft problematisch werden. Zum einen entgehen der Pädagogik damit interessante Erkenntnisse über ihren Gegenstand - die Entwicklung des Menschen und seine Erziehungs- und Lernmöglichkeiten. Zum anderen wächst die Gefahr, dass bei einer zu großen Unkenntnis über die Natur des Menschen der Pädagogik ihr eigener Gegenstand streitig gemacht wird und sie zu Diskussionen (zum Beispiel über das Verhältnis von Anlage und Umwelt im Lichte moderner Genomforschung) nicht angemessen Stellung beziehen kann.
Biologische Anthropologie
Dieses Buch rückt die „biologischen Grundlagen des Lernens" in den Mittelpunkt - und damit auch die des „Lehrens". Es wagt den Versuch, die wichtigsten Erkenntnisse aus der Biologie bzw. der naturwissenschaftlichen Anthropologie für Pädagogen und Erziehungswissenschaftler zusammenzustellen und zumindest in Ansätzen über die natürlichen Grundlagen des Lehrens und Lernens aufzuklären. Aufklärung und Mündigkeit sind Konzepte, die für weite Teile der Erziehungswissenschaft konstitutiv sind. Der Aufklärung über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, über Verstrickungen in Mythen und Traditionen sowie über psychische Verarbeitungsmuster galt lange Zeit das Hauptinteresse einer sich als emanzipatorisch verstehenden Erziehungswissenschaft. Naturwissenschaftliche Anthropologie bietet der Erziehungswissenschaft heute die Möglichkeit, über die bereits bestehenden Konzepte von Aufklärung hinauszugehen, nämlich Klärung über die Verhaltensvorschläge der Natur zu gewinnen. Biowissenschaftliche Reflexion öffnet der Erziehungswissenschaft die Chance, ihre auf gesellschaftlichemGebiet begonnene Aufklärung über Abhängigkeiten im Hinblick auf die Natur des Menschen fortzusetzen. Damit könnte das pädagogische Nachdenken über Emanzipation weitergeführt und radikalisiert werden. Nach der psychologischen und soziologischen Aufklärung steht in der Erziehungswissenschaft nun eine biologische Aufklärung an.
In diesem Buch werden einige der neueren Ergebnisse aus den Biowissenschaften für die Erziehungswissenschaft aufgearbeitet und zusammengestellt. Damit soll zumindest im Ansatz ein Verständnis für die Debatten der naturwissenschaftlichen Anthropologie hergestellt werden. Eine genauere Kenntnis der Grundlagen von Lehren und Lernen ermöglicht auch präzisere Vorstellungen über erzieherische Handlungsmöglichkeiten und deren Beschreibung durch Theoriemodelle. Wer die „Vorschläge der Natur" (MARKL 1986, S. 86) beeinflussen möchte, muss diese überhaupt erst einmal kennen! Gerade für Pädagogen ist die Kenntnis der Lerngeschichte des Menschen und ihrer Konsequenzen eine wichtige Grundlage für das Verständnis sowohl von Bildung als auch von didaktischen Zusammenhängen.
Mit einer solchen Zielsetzung tritt dieses Buch in einen neuen interdisziplinären Dialog, für den es kaum Vorbilder gibt. Es ist nicht davon auszugehen, dass Kenntnisse über die Grundlagen der Biologie - anders als beispielsweise im Falle der Psychologie - einfach vorausgesetzt werden können. Eigentlich müsste - so werden vor allem Biologen argumentieren - einem interdisziplinären Dialog eine solide Einführung in die Fachsprache und Wissenschaftsgebiete der Biologie vorangehen. Sie dürfte Pädagogen den Einstieg allerdings nicht eben erleichtern. Es bestünde zudem die Gefahr, dass pädagogische Fragestellungen mit biologischen Ordnungskriterien unterlegt würden. Und nicht zuletzt ist einzuwenden, dass das gesamte Gebiet der Biologie selbst für Biologen - geschweige denn für Erziehungswissenschaftler - schier unüberschaubar ist. Warum also nicht völlig anders an den interdisziplinären Diskurs herangehen? Es ist doch durchaus auch möglich, von ausgewählten pädagogischen Problemen auszugehen und danach zu fragen, welche Erkenntnisse sich in der biowissenschaftlichen Forschung zu den jeweiligen Problemen finden lassen. Dieses Vorgehen verspricht eine höhere Effektivität und schnellere Erkenntnismöglichkeiten für Pädagogen, ein unsystematisches Vorgehen im Hinblick auf die biowissenschaftliche Bezugsdisziplin sollte man deshalb in Kauf nehmen.
In diesem Buch wird deshalb überwiegend von pädagogischen Problemen bzw. Themen ausgegangen und das für Pädagogen relevante und interessante Wissen -quer zu allen biologischen Subdisziplinen-zusammengestellt. Ein solches Vorgehen ist im interdisziplinären Dialog legitim und macht häufig die Rezeption disziplinfremder Erkenntnisse für das eigene Fach überhaupt erst möglich.